Wenn das Blut erzählt, wie aktiv die Multiple Sklerose ist – Neurofilament-Leichtketten als neuer Marker

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine Erkrankung mit zwei Gesichtern. Nach außen sichtbar sind vor allem die Schübe: plötzliche Sehstörungen, Lähmungen, Taubheitsgefühle. Diese Ereignisse prägen das Krankheitsbild – für Betroffene, Angehörige und oft auch für die behandelnden Teams. Gleichzeitig läuft im Hintergrund ein zweiter Prozess: eine schleichende Schädigung von Nervenfasern, die lange kaum Symptome macht, aber entscheidend für die Langzeitprognose ist. Genau hier setzt ein neuer Biomarker an, der in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen hat: die Neurofilament-Leichtkette (NfL).

Neurofilamente sind Strukturproteine im Inneren von Nervenfasern. Man kann sie sich vereinfacht wie das „Stützgerüst“ eines Axons vorstellen. Wird eine Nervenfaser geschädigt, werden Fragmente dieser Proteine freigesetzt – zunächst in den Liquor und in geringerer Menge auch ins Blut. Je stärker die axonale Schädigung, desto höher steigt die NfL-Konzentration. Das gilt nicht nur für MS, sondern grundsätzlich für viele Erkrankungen des Nervensystems. Für die MS ist besonders spannend, dass sich diese Prozesse inzwischen mit sensitiven Labormethoden im Blut messen lassen – und zwar wiederholt, ohne Lumbalpunktion und ohne MRT-Termin.  

Schon vor vielen Jahren zeigte sich, dass NfL im Liquor bei aktiver MS erhöht ist. Der entscheidende Fortschritt war dann der Nachweis, dass Liquor- und Serumwerte eng zusammenhängen. Mit ultrasensitiven Immunoassays lässt sich NfL heute im Blut bestimmen. Dabei hat sich gezeigt: Der Marker ist erstaunlich robust. Proben sind stabil, die Messung lässt sich standardisieren, und es existieren mittlerweile Referenzmodelle, die Alter und Body-Mass-Index berücksichtigen. Das ist wichtig, denn NfL steigt auch bei gesunden Menschen mit zunehmendem Alter leicht an und ist bei Menschen mit sehr niedrigem BMI tendenziell höher. Statt auf rohe Zahlen zu schauen, werden die Werte deshalb zunehmend als Z-Scores oder Perzentilen interpretiert – also im Vergleich zu einer passenden Referenzpopulation.  

Was bedeutet das konkret für Menschen mit MS? Entlang des gesamten Krankheitsverlaufs eröffnen sich verschiedene Einsatzmöglichkeiten. Bereits im sehr frühen Stadium, etwa bei einem radiologisch isolierten Syndrom (RIS) oder nach dem ersten demyelinisierenden Ereignis, kann ein erhöhter NfL-Wert ein Hinweis auf eine aktuell aktive axonale Schädigung sein. Das hilft dabei, das individuelle Risiko besser einzuschätzen und die Frage zu beantworten, ob eine verlaufsmodifizierende Therapie frühzeitig begonnen werden sollte. Mit den neuen, revidierten Diagnosekriterien, die zum Teil auch eine MS-Diagnose ohne klaren klinischen Schub erlauben, gewinnt ein solcher Ausgangswert zusätzlich an Bedeutung.  

Im weiteren Verlauf lässt sich NfL nutzen, um Krankheitsaktivität und Therapieeffekte zu monitoren. Hohe Werte korrelieren oft mit Schubaktivität, neuen oder kontrastmittelaufnehmenden Läsionen in der MRT und einem höheren Behinderungsgrad. Unter wirksamer Immuntherapie sinken die Werte typischerweise. Besonders bei hochwirksamen Therapien wie Natalizumab oder B-Zell-depletierenden Antikörpern ist dieser Abfall meist deutlich ausgeprägt, während er unter klassischen Plattformtherapien moderater ausfällt. In der Praxis kann das helfen, Therapieentscheidungen zu untermauern: Persistierend erhöhte oder wieder ansteigende NfL-Werte trotz Behandlung können ein Hinweis darauf sein, dass die aktuelle Therapie nicht ausreicht. Umgekehrt können langfristig niedrige Werte – im Zusammenspiel mit stabiler Klinik und MRT – Argumente für eine Deeskalation oder eine vorsichtige Therapiepause liefern, etwa bei höherem Alter oder relevanten Komorbiditäten.  

Wichtig ist aber: NfL ist kein „MS-spezifischer“ Marker. Alles, was Nerven schädigt, kann die Konzentration im Blut erhöhen. Dazu gehören Schlaganfälle, Mikroangiopathien, Schädel-Hirn-Traumata, neurodegenerative Erkrankungen wie Demenzen oder Motoneuronerkrankungen, aber auch Myelopathien, ausgeprägte Spinalkanalstenosen oder Polyneuropathien. Selbst Operationssituationen und größere orthopädische Eingriffe können vorübergehende Anstiege verursachen. Hinzu kommen systemische Faktoren wie eine eingeschränkte Nierenfunktion oder ein schlecht eingestellter Diabetes, die den Wert beeinflussen können. Deshalb müssen unerwartet hohe NfL-Werte immer im klinischen Kontext bewertet werden – idealerweise mit wiederholten Messungen und einem Blick auf Begleiterkrankungen, Bildgebung und Zeitverlauf.  

Trotz dieser Einschränkungen zeigt sich ein klares Bild: Die Bestimmung von NfL im Blut hat sich von einem reinen Forschungswerkzeug zu einem ernsthaften Kandidaten für den klinischen Alltag entwickelt. Sie ergänzt die MRT, ersetzt sie aber nicht. Bildgebung bleibt unverzichtbar – etwa um die Lokalisation von Läsionen, den Verlauf der Hirnatrophie und andere strukturelle Aspekte zu erfassen. NfL kann jedoch etwas, das MRT-Untersuchungen im Alltag oft schwer leisten: Es erlaubt ein relativ engmaschiges, minimal-invasives Monitoring, das zuverlässig anzeigt, ob aktuell axonaler Schaden entsteht oder nicht.

Für die Zukunft bleibt spannend, ob sich mithilfe von NfL auch schubunabhängige Progressionsprozesse – das, was zunehmend unter dem Begriff PIRA (progression independent of relapse activity) diskutiert wird – besser identifizieren und vielleicht sogar vorhersagen lassen. Hier braucht es weitere Studien, vor allem auch Daten, die zeigen, ob eine gezielte Therapieintensivierung auf Basis von NfL-Verläufen tatsächlich langfristig zu weniger Behinderung führt. Klar ist aber schon heute: Das Blut kann uns bei MS mehr erzählen, als wir lange gedacht haben – wenn wir genau hinhören.

Quelle: Neurofilament­ Bestimmung im Blut bei ­ Multipler ­ Sklerose, Forum Anitas, 4. Ausgabe 2025, Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Sven Meuth, PD Dr. med. Marc Pawlitzki

Was Tirzepatid im Gehirn macht – und warum „Food Noise“ wiederkommen kann

Medikamente wie Tirzepatid haben die Adipositas-Therapie revolutioniert: Viele Patientinnen und Patienten verlieren massiv an Gewicht, berichten weniger Hunger und weniger „Food Noise“ – dieses ständige Kreisen der Gedanken um Essen. Aber was passiert dabei eigentlich im Gehirn? Und warum kehrt das Verlangen nach Essen bei manchen trotzdem wieder?

Eine neue Arbeit in Nature Medicine liefert dazu einen spektakulären Einblick direkt in das menschliche Belohnungszentrum.

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Minimalinvasive Therapien bei idiopathischer intrakranieller Hypertension (IIH): Moderne Optionen für eine komplexe Erkrankung

In Zusammenarbeit mit Marc Pawlitzki

Die idiopathische intrakranielle Hypertension (IIH) ist eine Erkrankung mit teils erheblicher Morbidität, die vor allem junge, adipöse Frauen betrifft. Charakteristisch ist eine Erhöhung des intrakraniellen Drucks ohne Nachweis eines Tumors, einer venösen Sinusthrombose oder eines Hydrozephalus. Klinisch stehen therapieresistente, oft migräneähnliche Kopfschmerzen und Sehstörungen im Vordergrund, die bis zur irreversiblen Visusminderung oder Erblindung fortschreiten können. Pathophysiologisch spielen dabei nicht nur das Körpergewicht, sondern vor allem metabolische und endokrine Faktoren eine Rolle – etwa Insulin- und Leptinresistenz, hormonelle Dysbalancen sowie venöse Abflussstörungen mit Stenosen der Sinus transversus. Diese Mechanismen führen zu einer gestörten Liquorproduktion und -resorption und damit zu einem chronisch erhöhten Hirndruck.

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JCV-Testung unter Natalizumab – zwei Testverfahren, eine Herausforderung

Natalizumab gehört seit fast 20 Jahren zu den effektivsten Therapien der hochaktiven Multiplen Sklerose. Mit dem seit 2024 verfügbaren Biosimilar Tyruko® stehen nun erstmals zwei Präparate – und damit auch zwei unterschiedliche JC-Virus-Antikörpertests – zur Verfügung.

Im Gespräch mit PD Dr. Marc PawlitzkiDr. Melanie Schütte und Prof. Dr. Orhan Aktas (Universitätsklinikum Düsseldorf) wurde deutlich, dass die Einführung des neuen, sensitiveren ImmunoWELL™ JCV-IgG-Tests im Praxisalltag für Unsicherheit sorgt. Während der bisherige STRATIFY-JCV®-DxSelect™-Test die Grundlage der bekannten Risikotabellen bildet, lassen sich dessen Werte nicht direkt auf den neuen Test übertragen.

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Wearable Schlafmonitoring bei CIDP

In Zusammenarbeit mit Jan Voth

Patientinnen und Patienten mit chronisch entzündlicher demyelinisierender Polyneuropathie (CIDP) leiden häufig unter schlechtem Schlaf – ein Aspekt, der ihren Alltag stark beeinträchtigen kann, bislang aber kaum untersucht ist. Dabei messen wir Schlaf im Alltag eigentlich nie, obwohl wir wissen, dass er bei CIDP eine wichtige Rolle spielt.

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Wie Bewegung die Erholung nach Schlaganfall fördert – eine Schlüsselrolle für Immunzellen und IL-10

Körperliches Training gilt seit Langem als wirksame Therapie, um nach einem Schlaganfall Bewegungs- und Gehirnfunktionen wiederherzustellen. Doch bislang war unklar, welche molekularen Prozesse dahinterstehen. Eine neue Studie von Forschenden der Universitäten Münster und Düsseldorf zeigt nun, dass spezielle Immunzellen – sogenannte regulatorische T-Zellen (Tregs) – dabei eine zentrale Rolle spielen.

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Locityper: Das verborgene Erbgut entschlüsseln

Ein Großteil dessen, was jeden Menschen genetisch einzigartig macht, liegt nicht in einzelnen DNA-„Buchstaben“, sondern in großen, komplexen Unterschieden in unseren Genen – den sogenannten strukturellen Varianten. Diese Unterschiede – etwa wiederholte, fehlende oder umgeordnete DNA-Abschnitte – sind entscheidend, um zu verstehen, wie Gene Krankheiten beeinflussen.

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Ocrelizumab bei pädiatrischer Multipler Sklerose

In Zusammenarbeit mit Marc Pawlitzki

Die pädiatrische Multiple Sklerose (POMS) macht schätzungsweise 3–5 % aller MS-Fälle aus. Sie beginnt meist im Jugendalter und verläuft häufig besonders entzündlich und schubaktiv. Wiederholte Schübe, eine hohe MRT-Läsionslast und frühe kognitive Beeinträchtigungen führen dazu, dass betroffene Kinder und Jugendliche ein erhöhtes Risiko für langfristige Behinderung und neurodegenerative Veränderungen haben.

Frühe, gezielte Immuntherapie ist daher insbesondere bei POMS essenziell, jedoch waren bisher die therapeutischen Möglichkeiten deutlich limitiert.

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MS Diagnose ohne klinisches Ereignis?

In Zusammenarbeit mit Marc Pawlitzki

Die Diagnosekriterien der Multiplen Sklerose (MS) wurden im Jahr 2024 erneut überarbeitet. Eine zentrale Neuerung besteht darin, dass nun auch Personen als an MS erkrankt eingestuft werden können, ohne dass bisher ein klinischer Schub aufgetreten ist. Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen MRT-Befunde typische Läsionen im zentralen Nervensystem zeigen, die in Lokalisation und Verteilung einer MS-Pathologie entsprechen – auch wenn die Betroffenen bislang keine klinischen Symptome entwickelt haben. Diese Konstellation wird als Radiologically Isolated Syndrome (RIS) bezeichnet.

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Neue Podcastfolge online

In der öffentlichen und medizinischen Diskussion über Multiple Sklerose (MS) stehen meist neuroimmunologische Aspekte im Fokus. Weniger bekannt ist jedoch, dass auch vaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Adipositas oder Rauchen den Verlauf und die Prognose einer MS-Erkrankung maßgeblich beeinflussen können.

In unserer neuen Videopodcastreihe widmen wir uns genau diesem bislang häufig unterschätzten Thema: dem Zusammenspiel zwischen MS und vaskulären Begleiterkrankungen.