Von Patricia Kirschner, Marc Pawlitzki, Hans-Peter Hartung und Sven Meuth
Die neue Komplexität der Multiplen Sklerose (MS)
Multiple Sklerose ist eine der am intensivsten erforschten neurologischen Erkrankungen unserer Zeit. Dennoch sind viele ihrer immunologischen Grundlagen und vor allem die Prozesse, die das Fortschreiten unabhängig von Schüben (PIRA) beeinflussen, weiterhin nicht vollständig verstanden. In einem aktuellen Überblick beleuchten wir, welche neuen immunologischen Erkenntnisse in den letzten Jahren gewonnen wurden – von genetischen Risikofaktoren über virale Auslöser bis hin zur Rolle des Darmmikrobioms, T- und B-Zell-Interaktionen sowie zelluläre Prozesse innerhalb des ZNS.
1. Genetik und Evolution des MS-Risikos
Großangelegte genetische Studien belegen, dass das genetische Risiko für MS historisch in den Bevölkerungen der pontischen Steppe entstand und vor etwa 5.000 Jahren nach Europa übertragen wurde. Interessanterweise war diese genetische Entwicklung durch positive Selektion gegen Infektionskrankheiten getrieben, was im Zuge besserer Hygiene nun paradoxerweise Autoimmunerkrankungen wie MS begünstigt.
2. EBV – Mehr als ein Kofaktor?
Der Zusammenhang zwischen einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und MS wurde in den letzten Jahren eindrucksvoll untermauert. EBV scheint bei genetisch prädisponierten Personen ein zentraler Auslöser zu sein. Neue Studien zeigen, dass spezifische NK-Zellen eine Kreuzreaktion zwischen EBV-Antigenen (EBNA) und GlialCAM verhindern können – eine potenzielle Immunregulationsschranke. Zudem wurde nachgewiesen, dass in der Liquorflüssigkeit von MS-Patienten erweiterte T-Zell-Klone existieren, die auf EBV-infizierte B-Zellen spezialisiert sind.
3. Darm-Hirn-Achse im Fokus
Auch das Mikrobiom rückt zunehmend in den Fokus: Die Zusammensetzung der Darmflora steht in Verbindung mit dem MS-Risiko und der Krankheitsprogression. Bei genetisch besonders vorbelasteten MS-Patient:innen wurden spezifische Mikrobiom-Signaturen wie eine erhöhte Porphyromonadaceae-Prävalenz nachgewiesen. Tiermodelle zeigen zudem, dass bestimmte diätäre Proteine wie Amylase-Trypsin-Inhibitoren aus Weizen die ZNS-Entzündung verschärfen können.
4. T- und B-Zellen: Differenzierte Akteure der Immunpathologie
Die Rolle der T-Helferzellen ist hinlänglich bekannt. Aber auch regulatorische T-Zellen (Tregs), deren Funktion unter bestimmten Therapien wie Natalizumab oder Anti-CD20-Antikörpern moduliert wird, gewinnen an Bedeutung. CD27 und seine Lösliche Form (sCD27) wurden als potenzielle Biomarker für T- und B-Zell-Aktivierung identifiziert. B-Zellen zeigen zudem nicht nur eine Antikörper-vermittelte Wirkung, sondern auch eine relevante Rolle in der Antigenpräsentation und der Sekretion proinflammatorischer Zytokine.
5. Die Bedeutung von Antikörpern
Obwohl oligoklonale Banden in der Diagnostik etabliert sind, gibt es neue Hinweise auf pathogene monoklonale IgG-Antikörper gegen Myelinproteine wie PLP1. Ein Subtyp von MS-Patient:innen zeigte sogar Jahre vor der klinischen Manifestation eine spezifische Autoantikörper-Signatur gegen mikrobielle Motive.
6. Glia und neuronale Immunantworten
ZNS-eigene Mechanismen rücken ebenfalls in den Fokus. Eine Untergruppe proinflammatorischer Astrozyten mit epigenetischem Gedächtnis wurde in MS-Läsionen nachgewiesen. Auch neuronale Antworten auf Inflammation – etwa über den STING-Signalweg, der zur Ferroptose führen kann – wurden als neue therapeutische Ansatzpunkte identifiziert. Darüber hinaus können astrozytäre PD-L1-Expressionen über Interaktionen mit PD-1 auf Mikroglia immunmodulatorisch wirken.
Fazit: Ein immer feineres Bild – aber noch kein fertiges Puzzle
Die Immunologie der MS ist komplexer als je zuvor. Die Erkenntnisse der letzten Jahre zeigen, dass es neben der klassischen T-Zell-vermittelten Entzündung zahlreiche weitere pathophysiologische Ebenen gibt: B-Zell-Dysfunktion, mikrobielle Trigger, neuronale Immunantworten und gliale Netzwerke. Diese Vielfalt eröffnet neue Wege für gezielte Therapien, insbesondere im bislang unterversorgten Bereich der progredienten MS. Doch bis zur klinischen Umsetzung bleibt es ein weiter Weg – den die Wissenschaft jedoch mit großen Schritten beschreitet.
Schlüsselpunkte:
- EBV-Infektion und Darmmikrobiom beeinflussen MS-Risiko und Verlauf.
- B- und T-Zell-Interaktionen sowie Antikörperreaktionen sind zentrale pathophysiologische Mechanismen.
- Gliazellen wirken nicht nur protektiv, sondern auch proinflammatorisch.
- Neue therapeutische Zielstrukturen könnten aus der neuronalen Immunantwort abgeleitet werden.