Multiple Sklerose und Onkologie – Gemeinsamkeiten zweier scheinbar getrennter Welten

Multiple Sklerose (MS) und maligne Erkrankungen wirken zunächst wie zwei völlig verschiedene Krankheitsbilder. Während die MS durch fehlgeleitete Immunreaktionen geprägt ist, stehen bei malignen Erkrankungen unkontrollierte Zellvermehrung und Immunflucht im Vordergrund. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass beide Bereiche immunologisch enger miteinander verwoben sind, als man lange angenommen hat.

Therapien, die ursprünglich für maligne Erkrankungen entwickelt wurden, haben ihren Weg in die Behandlung der MS gefunden – und umgekehrt zeigen sich bei manchen MS-Medikamenten Auswirkungen auf das Tumorrisiko. So aktivieren Checkpoint-Inhibitoren gezielt das Immunsystem, um entartete Zellen besser bekämpfen zu können, können dabei aber auch Autoimmunreaktionen auslösen. MS-Therapien hingegen beruhen meist auf einer Dämpfung von Immunantworten. Ein erhöhtes Gesamtrisiko für maligne Erkrankungen konnte bislang jedoch nicht nachgewiesen werden, auch wenn einzelne Substanzen ein differenziertes Monitoring erfordern.

Besonders spannend ist die Übernahme innovativer Strategien aus der Malignomtherapie: CD20-B-Zell-Antikörper, ursprünglich gegen Lymphome eingesetzt, gelten inzwischen als hochwirksame Basis in der MS-Therapie. Auch Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren, die B-Zell-Signale modulieren, könnten künftig eine wichtige Rolle spielen – nicht nur in der Schubtherapie, sondern auch bei progredienten Verläufen. Noch visionärer sind CAR-T-Zell-Ansätze, die autoreaktive Immunzellen gezielt ausschalten könnten und derzeit in ersten Studien erprobt werden.

Diese Entwicklungen zeigen, dass die Grenze zwischen Neuroimmunologie und malignen Erkrankungen zunehmend verschwimmt. Das tiefere Verständnis der immunologischen Balance – zwischen Aktivierung und Toleranz – ermöglicht neue, zielgerichtete Therapien. Für die Praxis bedeutet dies: künftige Behandlungskonzepte in der MS werden noch stärker auf personalisierte Immunmodulation setzen und von den Erfahrungen anderer Fachgebiete profitieren.

Quelle: Pawlitzki, Marc; Baermann, Ben-Niklas; Dietrich, Sascha; Meuth, Sven G.; Multiple Sklerose und Onkologie: Neue Perspektiven an der Schnittstelle zweier Disziplinen Dtsch Arztebl 2025; 122(16): [6]; DOI: 10.3238/PersNeuro.2025.08.08.01