In Zusammenarbeit mit Marc Pawlitzki
Die Diagnosekriterien der Multiplen Sklerose (MS) wurden im Jahr 2024 erneut überarbeitet. Eine zentrale Neuerung besteht darin, dass nun auch Personen als an MS erkrankt eingestuft werden können, ohne dass bisher ein klinischer Schub aufgetreten ist. Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen MRT-Befunde typische Läsionen im zentralen Nervensystem zeigen, die in Lokalisation und Verteilung einer MS-Pathologie entsprechen – auch wenn die Betroffenen bislang keine klinischen Symptome entwickelt haben. Diese Konstellation wird als Radiologically Isolated Syndrome (RIS) bezeichnet.
Einerseits erlaubt diese Erweiterung der Kriterien, bei Patientinnen und Patienten mit hohem Risiko für ein klinisches Ereignis – etwa bei positivem Nachweis oligoklonaler Banden im Liquor (OKB-positiv) oder vorliegenden spinalen Läsionen – bereits frühzeitig eine immunmodulatorische Therapie einzuleiten, um das Risiko einer ersten klinischen Manifestation zu verringern und strukturelle Hirnschäden zu vermeiden. Andererseits führt die höhere diagnostische Sensitivität jedoch zu einem erhöhten Risiko der Überdiagnose, also der Zuordnung einer MS-Diagnose bei Personen, deren Läsionen möglicherweise nie klinisch relevant geworden wären.
In einem aktuellen Comment von Solomon und Brodersen (Nature Reviews Neurology, 2025) weisen diese darauf hin, dass die 2024 revidierten McDonald-Kriterien zwar Chancen für frühere Behandlung und potenziell bessere Langzeitergebnisse eröffnen, zugleich aber die Gefahr der Überdiagnose verstärken. Überdiagnose meint hierbei nicht eine Fehldiagnose, sondern das Erkennen von Krankheitsprozessen, die bei unbehandeltem Verlauf niemals symptomatisch oder klinisch bedeutsam geworden wären. Studien zeigen, dass 25–51 % der Personen mit RIS innerhalb von 4,5 bis 10 Jahren erstmals Symptome entwickeln, während ein erheblicher Anteil dauerhaft asymptomatisch bleibt. Damit besteht das Risiko, dass Menschen aufgrund von MRT-Befunden fälschlicherweise als krank gelten und unnötig psychisch belastet oder vorbeugend immuntherapiert werden.
Die Autoren fordern daher langfristige Beobachtungsstudien und den Einsatz spezifischerer MRT-Biomarker, um zwischen harmlosen und prognostisch relevanten Läsionen besser unterscheiden zu können. Bis dahin sollten Ärztinnen und Ärzte im Rahmen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung (Shared Decision-Making) ausführlich über Unsicherheiten, Nutzen und mögliche Risiken einer Frühdiagnose und Therapieeinleitung informieren.
Unabhängig davon bedarf es weiterhin einer gründlichen klinischen Anamneseerhebung, einer sorgfältigen neurologischen Untersuchung sowie einer umfassenden Differentialdiagnostik. Nur durch die Kombination aus klinischer Beurteilung und ergänzender technischer Diagnostik lässt sich eine Fehldiagnose vermeiden. Insbesondere die Liquordiagnostik mit Nachweis oligoklonaler Banden sollte daher auch künftig als diagnostischer Standard gelten, bevor eine MS-Diagnose gestellt oder eine krankheitsmodifizierende Therapie eingeleitet wird.