Impfen unter Immuntherapie bei neurologischen Autoimmunerkrankungen

Mit hochwirksamen krankheitsmodifizierenden Therapien hat sich die Versorgung von Menschen mit neurologischen Autoimmunerkrankungen deutlich verändert. Parallel rückt ein Thema stärker in den Vordergrund, das im klinischen Alltag lange eher nebenbei lief: Impfungen. Gerade weil viele dieser Therapien gezielt in Immunfunktionen eingreifen, stellen sich in der Praxis ganz konkrete Fragen – wie gut wirken Impfungen unter laufender Immuntherapie, wann ist der beste Zeitpunkt, und welche Impfstoffe sind problematisch?

Ein deutscher, evidenzbasierter Expertenkonsens nimmt diese Fragen systematisch auf und bündelt Literatur, klinische Erfahrung und ein strukturiertes Konsensverfahren, um praktikable Empfehlungen zu Impfarten und Impfzeitpunkten unter verschiedenen Immuntherapien zu geben. Der Kernpunkt: Sowohl die antikörpervermittelte (humorale) als auch die zelluläre Impfantwort kann unter einer Reihe von Therapien abgeschwächt sein. Das betrifft unter anderem alemtuzumab, azathioprin, cladribin, cyclophosphamid, CD19/CD20-Antikörper (wie inebilizumab, ocrelizumab, ofatumumab, rituximab, ublituximab), S1P-Rezeptor-Modulatoren (fingolimod, ozanimod, ponesimod, siponimod), dimethyl- und diroximel fumarat, FcRn-Inhibitoren (efgartigimod, rozanolixizumab), Komplement-C5-Inhibitoren (eculizumab, ravulizumab, zilucoplan), IL-6-Rezeptor-Antikörper (tocilizumab, satralizumab), aber auch i. v. Immunglobuline, langzeitige Steroidtherapie, methotrexat, mitoxantron, mycophenolat, tacrolimus, teriflunomid, TNF-α-Blocker sowie die Situation nach autologer Stammzelltransplantation. Wie stark die Impfantwort beeinträchtigt ist, kann dabei auch von der Lymphozytenzahl abhängen.

Aus dieser Ausgangslage leitet der Konsens eine pragmatische Leitlinie ab: Wenn möglich, sollte die Immunisierung vor Beginn einer Immuntherapie komplettiert werden, um die bestmögliche Impfantwort zu erreichen. Gleichzeitig betonen die Autorinnen und Autoren klar, dass diese Regel dort an ihre Grenze kommt, wo eine aktive entzündliche Krankheitsaktivität droht, irreversible neurologische Defizite zu hinterlassen. In solchen Situationen lässt sich ein Aufschub des Therapiebeginns allein zur Vervollständigung von Impfungen nicht rechtfertigen. Impfungen bleiben dann weiterhin wichtig, müssen aber unter den Rahmenbedingungen der laufenden Therapie geplant werden – inklusive realistischer Erwartung an den Impfschutz und gegebenenfalls zusätzlicher Schutzmaßnahmen.

Besondere Aufmerksamkeit gilt Lebendimpfstoffen. Sie sind unter den meisten immunmodulatorischen oder immunsuppressiven Therapien kontraindiziert und werden – wenn überhaupt – nur nach strenger individueller Risiko-Nutzen-Abwägung empfohlen. Der Konsens unterstreicht damit ein zentrales Prinzip: Impfungen sind für Menschen unter Immuntherapie notwendig, um Infektionen und damit verbundene Krankheitsverschlechterungen zu verhindern. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass die Impfantwort eingeschränkt sein kann – was eine engere Überwachung und in bestimmten Fällen ein angepasstes Vorgehen (zum Beispiel Kontrolle des Impferfolgs, Auffrischungen oder ergänzende Präventionsmaßnahmen) sinnvoll macht.

Insgesamt liefert der Expertenkonsens einen praxisorientierten Rahmen, der zwei Ziele zusammenführt: bestmögliche Infektionsprävention durch Impfungen und gleichzeitig eine konsequente Behandlung der neurologischen Autoimmunerkrankung ohne unnötige Verzögerungen. Gerade in Zeiten komplexer Therapielandschaften ist diese Balance entscheidend, um Versorgungssicherheit, Wirksamkeit und Patientensicherheit zusammenzudenken.

Quelle: Schraad, M., Mäurer, M., Salmen, A., Ruck, T., Uphaus, T., Fleischer, V., Luessi, F., Protopapa, M., Steffen, F., Hanuscheck, N., Pape, K., Brummer, T., Shin, J., Korn, T., Klotz, L., Lünemann, J. D., Pawlitzki, M., Weber, M. S., Bayas, A., Wildemann, B., … Zipp, F. (2025). Cellular and humoral vaccination response under immunotherapies-German consensus on vaccination strategies in neurological autoimmune diseases. Therapeutic advances in neurological disorders18, 17562864251396006.