Nicht der Anfang, sondern der Verlauf? Neue Perspektiven auf die Darm-Gehirn-Achse bei MS

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems und die häufigste nicht-traumatische Ursache von Behinderung bei jungen Menschen. Anhaltende Entzündung kann zu fortschreitender Demyelinisierung und nachfolgendem axonalem Schaden führen. Trotz intensiver Forschung ist die Ursache der MS nicht abschließend geklärt – wahrscheinlich greifen genetische und Umweltfaktoren ineinander. Zu den diskutierten Umweltfaktoren gehören neben Infektionen (z. B. eine Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus) und Störungen des Vitamin-D-Haushalts zunehmend auch Veränderungen der Darm-Gehirn-Achse. Insbesondere das Konzept einer intestinalen Dysbiose ist in den letzten Jahren ins Zentrum des Interesses gerückt.

Bei Menschen mit MS scheint die Zusammensetzung der Darmmikrobiota verändert zu sein. Mehrere Arbeiten berichteten über eine Abnahme jener Bakterien, die kurzkettige Fettsäuren (short-chain fatty acids, SCFAs) produzieren. Diese Metabolite – darunter Acetat, Propionat und Butyrat – entstehen durch bakterielle Fermentation, sind für die Darmbarriere relevant und wirken immunmodulatorisch. Besonders Butyrat wird häufig als „protektiv“ beschrieben, da es antiinflammatorische Effekte unterstützt und eine zentrale Rolle für die Integrität der intestinalen Barriere spielt. Entsprechend gilt eine reduzierte SCFA-Konzentration im Darm häufig als Hinweis auf ein proinflammatorisches Milieu. Präklinisch wurde das Thema zusätzlich befeuert: In Tiermodellen der MS (EAE) konnten SCFAs den Krankheitsverlauf beeinflussen; teils wurden demyelinisierende Prozesse abgeschwächt und Remyelinisierung gefördert, etwa nach Supplementation von Butyrat oder Propionat. Gleichzeitig ist das Bild nicht eindeutig – auch proinflammatorische Effekte wurden in EAE-Experimenten beschrieben. SCFAs sind für die Darm-Gehirn-Achse außerdem deshalb interessant, weil sie die Blut-Hirn-Schranke passieren können und über Immunzellinteraktionen (u. a. T-Zellen und Zytokine) potenziell auf den Verlauf der MS einwirken.

Trotz dieser Plausibilität bleibt eine zentrale Frage offen: Was ist Ursache und was ist Folge? Bis heute ist keine klare Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen intestinaler und ZNS-Inflammation nachgewiesen. Es ist unklar, ob Darmveränderungen MS-Prozesse auslösen, ob sie eine Reaktion auf chronische ZNS-Entzündung darstellen oder ob beide Richtungen gleichzeitig zutreffen. Erschwerend kommt hinzu, dass immunmodulatorische Therapien selbst das Mikrobiom beeinflussen könnten – für viele Substanzen ist das bislang unzureichend untersucht. Für Interferon-beta gibt es Hinweise auf eine Art „Normalisierung“ der Mikrobiota, doch die Daten sind klein und die Effekte auf SCFAs sind weitgehend ungeklärt.

Genau hier setzt die vorliegende Studie an: SCFA-Untersuchungen bei MS sind insgesamt noch selten, und viele frühere Arbeiten betrachteten vor allem Patienten mit langer Krankheitsdauer – häufig bereits behandelt – sowie eher Plasmakonzentrationen als fäkale Konzentrationen. Besonders wenig wissen wir über die Situation ganz am Anfang: Was passiert bei der ersten demyelinisierenden Manifestation, im Schub, bevor Steroide oder Immuntherapien eingreifen? Die Autoren wollten deshalb SCFA-Veränderungen in der initialen Phase der schubförmigen MS (RRMS) untersuchen – und zwar bei Patientinnen und Patienten mit Erstmanifestation während des ersten Schubs, noch vor Beginn einer immunsuppressiven Therapie. Zusätzlich wurde fäkales Calprotectin erhoben, ein etablierter Marker der intestinalen Immunaktivierung, der aus der CED-Diagnostik bekannt ist und auch in anderen Erkrankungen als Hinweis auf intestinale Entzündung dienen kann.

Methodisch wurden zwischen Januar 2024 und März 2025 insgesamt 22 Patientinnen und Patienten mit neu diagnostizierter aktiver RRMS („Early-RRMS“) während des ersten Schubs eingeschlossen. Wichtig: Die Probenentnahme erfolgte vor Beginn der Steroidtherapie bzw. sehr zeitnah nach deren Einleitung. Als Vergleichsgruppen dienten 22 altersgematchte gesunde Kontrollen sowie 22 alters- und geschlechtsgematchte Personen mit bekannter RRMS und langjähriger Immuntherapie („Late-RRMS“) mit im Mittel rund 11 Jahren Krankheitsdauer. Neben klinischen Parametern (u. a. EDSS) wurden neuropsychologische Tests (BDI, MFIS, MMSE) und Laborwerte erhoben; Stuhlproben wurden mittels Gaschromatographie auf SCFAs analysiert.

Das Ergebnis ist in seiner Richtung überraschend, gerade im Lichte früherer Literatur: Zwischen den neu diagnostizierten Early-RRMS-Patienten und den gesunden Kontrollen fanden sich keine signifikanten Unterschiede in den fäkalen Konzentrationen der untersuchten SCFAs (Acetat, Propionat, Butyrat sowie weitere verzweigte/„minor“ SCFAs). Mit anderen Worten: Zum Zeitpunkt der Erstmanifestation im Schub waren die fäkalen SCFA-Spiegel im Kollektiv nicht niedriger als bei Gesunden. Im direkten Vergleich zwischen Early-RRMS und Late-RRMS zeigte sich jedoch ein klares Muster: Die Early-RRMS-Gruppe wies für fast alle gemessenen SCFAs signifikant höhere fäkale Konzentrationen auf als die Late-RRMS-Gruppe (Ausnahme: Acetat ohne Signifikanz). Interessanterweise unterschieden sich innerhalb der Late-RRMS-Gruppe die SCFA-Werte nicht relevant zwischen verschiedenen Therapieklassen, und auch eine Grobeinteilung in „Induktion“ versus „Eskalation“ ergab keine signifikanten Differenzen – wobei hier die Fallzahlen pro Subgruppe naturgemäß klein sind.

Auch klinisch ist bemerkenswert, was nicht gefunden wurde: SCFA-Konzentrationen korrelierten weder mit EDSS noch mit Vitamin-D-Spiegeln, Blutbildparametern oder Rauchen, und auch nicht mit Kognition, Depressivität oder Fatigue. Die beiden RRMS-Gruppen unterschieden sich zudem nicht wesentlich im EDSS, Late-RRMS zeigte allerdings höhere Fatigue-Scores (MFIS), was zur klinischen Erfahrung passt.

Beim fäkalen Calprotectin zeigte sich kein signifikanter Gruppenunterschied; es gab lediglich eine deskriptive Tendenz zu höheren Werten in der Early-RRMS-Gruppe. Das ist insofern interessant, als präklinische EAE-Daten eine intestinale Entzündungsaktivierung nahelegen und bisher Real-World-Daten bei unbehandelten oder im Schub befindlichen MS-Patienten rar sind. Der fehlende signifikante Unterschied kann an Stichprobengröße, Timing, biologischer Variabilität oder an echten geringen Effekten liegen – die Studie liefert hier eher einen Impuls als einen „finalen“ Befund.

Was bedeutet das für das Konzept der Darm-Gehirn-Achse bei MS? Die Autoren leiten aus ihren Daten die Hypothese ab, dass niedrige intestinale SCFA-Konzentrationen möglicherweise nicht am Anfang, sondern erst im Verlauf der Erkrankung auftreten könnten – und somit eher Konsequenz chronischer ZNS-Inflammation, langfristiger Krankheitsdynamik, Lebensstil-/Ernährungsänderungen oder Therapieeffekten sein könnten. Das widerspricht nicht zwingend der Idee einer relevanten Darm-Gehirn-Achse, verschiebt aber die Perspektive: Nicht jede beobachtete „Darm-Signatur“ muss ein initialer Trigger sein – sie kann auch ein Biomarker oder Begleitphänomen der Krankheitschronifizierung sein. Ergänzend diskutieren die Autoren, dass SCFA-Veränderungen in späteren MS-Phasen auch eher mit neurodegenerativen Prozessen als mit akuter Entzündung zusammenhängen könnten, zumal vergleichbare SCFA-Profile auch bei klassischen neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson beschrieben wurden.

Unterm Strich liefert die Studie damit einen wichtigen methodischen Beitrag: eine frühe, therapienaive bzw. therapie-nahe Erfassung in der Erstmanifestation, direkt im Schub. Und sie liefert eine klinisch relevante Botschaft: Wenn fäkale SCFAs bei früh aktiver RRMS nicht reduziert sind, sollten wir vorsichtig sein mit vereinfachten Ursache-Wirkungs-Erzählungen. Die nächsten Schritte liegen auf der Hand: größere Kohorten, engmaschige Längsschnittmessungen (idealerweise Stuhl und Blut parallel), standardisierte Ernährungs-/Lifestyle-Erfassung und besser gepowerte Analysen pro Therapieklasse. Erst dann lässt sich wirklich beantworten, ob SCFAs in MS eher Trigger, Modulator, Marker – oder alles zugleich, je nach Krankheitsphase – sind.

Quelle: Stögbauer J, Kämpfer N, Becker-Dorison A, et al. Alterations of fecal short-chain fatty acids solely in the course of multiple sclerosis: rethinking the gut-brain axis in the early stages of MS. Ther Adv Neurol Disord. 2025;18:17562864251396028. Published 2025 Dec 12. doi:10.1177/17562864251396028