Schluckstörungen im Alter neu denken – warum oropharyngeale Dysphagie ein neurogeriatrisches Syndrom ist

Oropharyngeale Dysphagie ist in neurogeriatrischen Populationen häufig und klinisch hochrelevant: Sie erhöht das Risiko für Mangelernährung, Aspirationspneumonien und Mortalität und beeinträchtigt die Lebensqualität erheblich. Gleichzeitig begegnen wir in der Praxis einer großen Heterogenität – Dysphagie zeigt sich als multiätiologisches Syndrom mit unterschiedlichen Phänotypen, Verläufen und Komplikationsrisiken.

In unserem Review vertreten wir daher eine neurogeriatrische Perspektive, die neurologische Krankheitsmechanismen mit geriatrischen Prinzipien der ganzheitlichen Versorgung integriert. Ein zentraler Punkt: Dysphagie ist nicht nur „Begleiterscheinung“ neurologischer Erkrankungen, sondern kann diagnostisch wegweisendsein und in ausgewählten Konstellationen direkt neurologisch therapeutisch adressiert werden. Beispiele sind die rasche Reversibilität bei Myasthenia gravis unter Acetylcholinesterase-Hemmern oder die messbare Besserung bei einem Teil der Parkinson-Patientinnen und -Patienten unter dopaminerger Therapie.

Diagnostik: von Schweregrad zu Phänotypen

Da Schlucken von außen nur begrenzt beurteilbar ist und stille Aspiration häufig bleibt, sehen wir instrumentelle Verfahren wie FEES und Videofluoroskopie als entscheidend für eine zuverlässige Diagnostik und Therapieplanung. Über reine Schweregradskalen hinaus betonen wir die Relevanz einer phänotypischen Einordnung neurogener Dysphagie (z. B. vorzeitiges Bolusgleiten, verzögerter Schluckreflex, valleculäre oder piriforme Residuen, pharyngolaryngeale Bewegungsstörungen, Fatigabilität, komplexe Muster). Diese Phänotypen können Hinweise auf zugrunde liegende Mechanismen geben und individualisierte Interventionen erleichtern.

Geriatrische Dimension: Presbyphagie und reduzierte Reserve

Auf der transdiagnostischen Ebene spielen altersassoziierte Faktoren eine Schlüsselrolle. Das Konzept der Presbyphagie beschreibt altersbedingte Veränderungen wie reduzierte pharyngeale Sensibilität, Sarkopenie, kognitive Einschränkungen und abnehmende Neuroplastizität – häufig zunächst subklinisch, aber mit reduzierter Kompensationsreserve. Treffen diese Veränderungen auf zusätzliche krankheitsbedingte Beeinträchtigungen, kann klinisch relevante Dysphagie entstehen. Wir diskutieren zudem, dass die Grenze zwischen „physiologisch“ und „pathologisch“ eher als Kontinuum verstanden werden sollte und robuste Schwellenwerte für Interventionen bislang fehlen.

Therapie: Schutz, Mechanismus-orientierung und neue Ansätze

Therapeutisch unterscheiden wir protektive Strategien (u. a. konsequente Mundhygiene, strukturierte Ernährungstherapie, bedachte Konsistenzanpassung) von phänotyp-spezifischen Interventionen, die gezielt die Schluckphysiologie verbessern (z. B. kompensatorische Manöver, Training der suprahyoidalen Muskulatur, EMST, Behandlung einer UÖS-Dysfunktion mit Dilatation/Botulinum/Myotomie). Gleichzeitig sehen wir Neurostimulation(z. B. PES, tDCS, TMS, NMES) als vielversprechendes Forschungsfeld, insbesondere mit Blick auf neuroplastische Rehabilitationsmechanismen. Auch pharmakologische sensorische Stimulationsansätze (z. B. Capsaicin/Substanz-P-Mechanismen) erscheinen perspektivisch relevant.

Ausblick: Kontextualisieren statt übertherapieren

Instrumentelle Diagnostik detektiert auch milde Befunde unklarer klinischer Bedeutung. Wir plädieren dafür, Befunde nur dann als klinisch relevant zu werten, wenn Symptome, Einschränkungen der Effizienz (z. B. inadäquate orale Aufnahme) oder Sicherheitsprobleme (z. B. Aspiration) bestehen. Gerade langfristige Maßnahmen wie Texturmodifikationen können Nebenwirkungen (Dehydratation, reduzierte Lebensqualität, Malnutrition) haben und sollten individualisiert, überwacht und regelmäßig reevaluert werden.

Fazit

Wir schlagen vor, oropharyngeale Dysphagie konsequent als neurogeriatrisches Syndrom zu begreifen: mit neurologisch spezifischen, diagnostisch und therapeutisch nutzbaren Mustern – und zugleich mit einer transdiagnostischen geriatrischen Dimension, in der Reservekapazität, Frailty, orale Gesundheit, Immunstatus, Kognition, Ernährung und Sarkopenie entscheidend sind. Eine integrierte neurogeriatrische Herangehensweise kann dazu beitragen, Komplikationen zu reduzieren, Mortalität zu senken und die Lebensqualität älterer neurologischer Patientinnen und Patienten zu verbessern.

Quelle: Labeit B, Lapa S, Lueg G, et al. Oropharyngeal dysphagia: a narrative review towards an integrated neurogeriatric perspective. Lancet Healthy Longev. Published online December 2, 2025. doi:10.1016/j.lanhl.2025.100794