In der MS-Therapie hat sich in den letzten Jahren ein deutlicher Wandel vollzogen: weg von der reinen Schubkontrolle hin zu Strategien, die auf eine möglichst langfristige Krankheitsberuhigung, geringere Therapiebelastung und idealerweise therapiefreie Intervalle abzielen. In unserem aktuellen Review in der Journal of Neurology-Serie sind wir der Frage nachgegangen, ob eine therapiefreie Remission mit Cladribin-Tabletten bei Multipler Sklerose ein realistisches Behandlungsziel ist – und für welche Patientengruppen dieser Ansatz in besonderem Maße infrage kommt.
Cladribin-Tabletten werden als pulsförmig verabreichte „selective immune reconstitution therapy“ (SIRT) eingesetzt. Im Unterschied zu klassischen Erhaltungstherapien mit kontinuierlicher Immunmodulation oder -suppression erfolgt die Behandlung in zwei kurzen Behandlungsphasen über zwei aufeinanderfolgende Jahre. Dazwischen und danach folgen längere therapiefreie Intervalle, in denen der Effekt über die immunologischen Veränderungen fortbesteht. Genau dieses Konzept – kurze Exposition, anhaltender Umbau des adaptiven Immunsystems bei weitgehend erhaltener Immunabwehr – macht Cladribin zu einer besonders interessanten Option im Spektrum hochwirksamer MS-Therapien.
Im Review fassen wir die inzwischen umfangreiche Evidenz zu Wirksamkeit und Sicherheit zusammen. Seit den ursprünglichen CLARITY-Daten und den Langzeitverlaufsanalysen liegen mittlerweile über viele Jahre Nachbeobachtung vor. Im Mittelpunkt steht dabei eine anhaltende Reduktion insbesondere von Gedächtnis-B-Zellen, die als zentrale Treiber der chronischen Entzündung bei MS gelten. Gleichzeitig bleibt die angeborene Immunität weitgehend erhalten, und das kumulative Risiko schwerer Infektionen liegt nach aktueller Datenlage im unteren Bereich dessen, was man von langfristigen Immunsuppressionen kennt. Vereinfacht gesagt: Die wesentlichen Risiken konzentrieren sich auf die eng begrenzten Therapiephasen, während die folgenden therapiefreien Intervalle vergleichsweise wenig Monitoringaufwand erfordern.
Ein Schwerpunkt unseres Artikels ist die Übertragung dieser Daten in konkrete klinische Szenarien. Wir diskutieren drei typische Konstellationen aus der Praxis: junge Patienten mit neu diagnostizierter MS, Patienten mit hochaktiver Erkrankung sowie ältere Betroffene, die von Anti-CD20-Antikörpern oder S1P-Modulatoren auf Cladribin wechseln. In jeder dieser Situationen stellt sich die Frage, wie groß der erwartbare Nutzen eines SIRT-Ansatzes ist, wie das individuelle Risikoprofil aussieht und ob eine therapiefreie Remission ein realistisch erreichbares und verantwortbares Behandlungsziel sein kann.
Für junge Menschen mit frisch diagnostizierter MS kann Cladribin eine Option sein, wenn früh eine hochwirksame Therapie gewünscht ist, ohne dass dauerhaft eine kontinuierliche Immuntherapie notwendig wird. Besonders relevant sind hier planbare therapiefreie Intervalle – etwa im Hinblick auf Familienplanung oder Impfungen. Bei Patienten mit sehr aktiver Erkrankung steht die rasche Kontrolle der Entzündungsaktivität im Vordergrund; hier ist sorgfältig abzuwägen, ob Cladribin in der individuellen Situation ausreichend ist oder ob zunächst eine andere Eskalationstherapie erforderlich ist.
Besonders interessant ist der Einsatz bei älteren Patienten, die bereits über Jahre mit Anti-CD20-Antikörpern oder S1P-Modulatoren behandelt wurden. In dieser Gruppe rücken Langzeitrisiken wie Hypogammaglobulinämie, Infektionen oder mögliche Auswirkungen auf die Tumorimmunosurveillance zunehmend in den Vordergrund. Ein Wechsel auf eine SIRT mit definiertem Behandlungsfenster kann helfen, die kumulative Immunsuppression zu reduzieren, ohne die Krankheitskontrolle grundsätzlich zu gefährden. Zugleich ist klar, dass bei älteren Patienten Komorbiditäten, bereits bestehende Immunveränderungen und die individuelle Dynamik der Erkrankung besonders sorgfältig berücksichtigt werden müssen.
Die zentrale Frage, ob therapiefreie Remission ein realistisches Ziel ist, lässt sich letztlich nicht mit einem simplen Ja oder Nein beantworten. Die Daten zeigen deutlich, dass ein relevanter Anteil der mit Cladribin behandelten Patienten über mehrere Jahre stabil ohne weitere MS-Therapie bleiben kann. Gleichzeitig gibt es Subgruppen mit höherem Risiko für erneute Krankheitsaktivität, bei denen engmaschiges Monitoring und gegebenenfalls ein weiterer Therapiezyklus oder ein Wechsel auf eine andere Therapie notwendig werden. Unser Fazit lautet daher: Therapiefreie Remission ist mit Cladribin-Tabletten für ausgewählte Patienten ein realistisches, aber klar individualisiertes Behandlungsziel – kein allgemeingültiges Versprechen.

