Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die in unterschiedlichsten Formen auftreten kann – schubförmig, progredient, mit mildem oder schwerem Verlauf. Eine zentrale Herausforderung in der Versorgung von Menschen mit MS liegt darin, Krankheitsaktivität und -verlauf möglichst präzise zu erfassen, um individuelle Therapieentscheidungen optimal zu steuern.
NfL als objektiver Biomarker im Blut
Mit der Neurofilament-Leichtkette (NfL) steht erstmals ein valider Biomarker zur Verfügung, der neuronal bedingte Schädigungsprozesse im Blut messbar macht. Bei axonaler Schädigung gelangen NfL-Proteine aus Neuronen über den Liquor und die Blut-Hirn-Schranke ins periphere Blut. Die Konzentration im Serum – sNfL – korreliert gut mit der im Liquor und reflektiert entzündliche Krankheitsaktivität, Hirnatrophie und axonalen Schaden. Besonders wertvoll: Der Nachweis gelingt minimalinvasiv per Blutentnahme.
Erhöhte sNfL-Werte: Frühwarnzeichen und Monitoringinstrument
Ein Anstieg der sNfL-Werte kann Krankheitsaktivität anzeigen, noch bevor diese klinisch oder im MRT sichtbar wird. Studien zeigen, dass sNfL-Werte bereits Jahre vor dem ersten klinischen MS-Ereignis erhöht sein können – etwa beim radiologisch isolierten Syndrom (RIS). Ebenso können sie das individuelle Risiko für Schübe, neue Läsionen und Behinderungsprogression anzeigen und damit bei Therapieentscheidungen unterstützen.
Z-Scores statt fixer Grenzwerte
Da die sNfL-Konzentration physiologisch mit dem Alter steigt und vom Körpergewicht beeinflusst wird, werden absolute Werte allein der individuellen Interpretation nicht gerecht. Deshalb erfolgt die Bewertung mittlerweile anhand alters- und BMI-adaptierter Z-Scores und Perzentilen, wie sie etwa über die Referenzdatenbank des Universitätsspitals Basel bereitgestellt werden. So kann beurteilt werden, ob ein individueller Wert im Normbereich oder pathologisch erhöht ist – unabhängig vom verwendeten Testkit.
Therapieüberwachung und langfristige Verlaufskontrolle
Die Dynamik der sNfL-Werte kann Hinweise auf das Therapieansprechen geben: Effektive Therapien führen in der Regel zu einem Rückgang erhöhter sNfL-Spiegel. Bleiben diese jedoch über Monate erhöht, kann dies auf subklinische Aktivität hinweisen und Anlass zur Eskalation geben. Im umgekehrten Fall können stabil niedrige Werte helfen, Therapietreue zu belohnen oder – bei stabiler Langzeitremission – vorsichtig über Deeskalationen nachzudenken.
Grenzen und Kontextfaktoren
Wichtig ist: sNfL ist ein unspezifischer Marker für axonalen Schaden und nicht exklusiv für MS. Auch andere neurologische oder systemische Erkrankungen – etwa diabetische Polyneuropathie oder Niereninsuffizienz – können die Werte beeinflussen. Ein weiterer Grund, weshalb Z-Scores und Kontextwissen in der klinischen Anwendung unerlässlich sind.
Ausblick: NfL als Türöffner für Präzisionsmedizin
Die Integration von sNfL-Messungen in die klinische Routine könnte ein Meilenstein auf dem Weg zu einer personalisierteren MS-Medizin sein – vergleichbar mit der Etablierung von HbA1c in der Diabetologie. Erste Registerdaten und Studien wie die MultiSCRIPT-Initiative liefern dazu praxisnahe Evidenz. Künftig könnten Kombinationen mit weiteren Biomarkern wie GFAP noch spezifischere Aussagen zum Mechanismus der Progression ermöglichen.